Menschliches Empfinden für den Computer:
In der virtuellen Applikation liegt die Zukunft der Klimakomfortoptimierung
Von Michael Ellinger,Gruppenleiter CFD & Thermal Analysis,
und Max Hauk, Senior Expert Thermal Management bei ARRK Engineering
Mit der Einführung der Elektromobilität gewinnen die Themen Klimatisierung und Klimakomfort massiv an Bedeutung. Denn anders als beim Verbrennungsmotor, der zum Heizen stets ausreichend Abwärme zur Verfügung stellen kann und alle elektrischen Verbraucher im Innenraum über den Generator betreibt, bezahlt der Fahrer eines E-Autos jede benötigte Heiz- oder Kühlleistung teuer mit potentieller Reichweite. Hinzu kommt, dass aufgrund der steigenden Konkurrenz in der Branche der thermische Komfort in der Fahrzeugkabine zunehmend als Differenzierungsmerkmal in den Fokus rückt. Umso wichtiger wird die Optimierung des Thermomanagements hinsichtlich seiner Qualität und Effizienz. Hierfür sind bislang langwierige Entwicklungsprozesse nötig, deren Ergebnisse stark von der subjektiven Empfindung der beteiligten Applikateure beeinflusst werden. Diese bewerten den thermischen Komfort im Fahrzeug schlussendlich. Folglich muss ein Weg gefunden werden, um die Entwicklung der Klimatisierung und des Klimakomforts zu objektivieren. ARRK Engineering arbeitet deshalb daran, die komplexen thermischen Prozesse mithilfe von Hardware- und Software-Dummys zu simulieren sowie ein Komfort-Lastenheft zu erstellen. Basierend auf diesen Ergebnissen soll die Applikationsarbeit zukünftig weitgehend virtualisiert und somit nicht nur ein objektiveres Ergebnis erzielt, sondern auch Entwicklungszeit sowie ‑kosten eingespart werden.
Laut des LeasePlan Mobility Insights Report vom Februar 2021, bei dem insgesamt rund 5.400 Personen aus 21 europäischen Ländern sowie den USA interviewt wurden, gaben 34 Prozent der Teilnehmenden an, die begrenzte Reichweite schmälere ihr Interesse an einem E-Auto. In Portugal und Deutschland leiden sogar mehr als sechs von zehn Befragten unter der sogenannten „Reichweitenangst“ (Range anxiety) in Bezug auf die Elektromobilität. Während beim konventionell angetriebenen Fahrzeug in der Regel alle elektrischen Verbraucher über die Lichtmaschine oder, wie die Klimaanlage, direkt vom Verbrennungsmotor betrieben werden und die Reichweite einer Tankfüllung somit meist nicht merklich verringern, versorgt das E-Auto alle Funktionen – von der Beschleunigung bis zum Bord-Infotainment – aus derselben Energiequelle. Daher ist es für die Elektromobilität essentiell, die Thermomanagementsysteme im Fahrzeug so effizient und „intelligent“ wie möglich zu gestalten, um die real zur Verfügung stehende Reichweite zu maximieren.
Neben dieser Thematik lässt sich in den vergangenen Jahren ein weiteres Phänomen beobachten: Unter anderem wegen der wachsenden E-Mobility-Start-up-Szene steigt die Konkurrenz innerhalb der Automobilbranche rasant an. Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit wird vor allem auf dem asiatischen Markt, jüngst aber auch in Europa und den USA, von Entwickler- wie Kunden-Seite immer mehr Wert speziell auf den Klimakomfort im Fahrzeuginnenraum gelegt. Nicht zuletzt wird das autonome Fahren bisherige Klimatisierungskonzepte revolutionieren, indem sich die Insassen beispielsweise gegenübersitzen, anstatt nach vorne gewandt, was die Notwendigkeit einer völlig anderen Verteilung der Luftströme in der Fahrgastzelle nach sich zieht. Aus diesen Gründen ist es notwendig, eine Virtualisierungsstrategie zu entwickeln, um neue Thermomanagementkonzepte deutlich schneller und zugleich besser abbilden sowie optimieren zu können.
Die Virtualisierung hat zu einem gewissen Grad längst Einzug in die Thermomanagemententwicklung gehalten. Dennoch hängt weiterhin ein Großteil der umfassenden Feinabstimmung der Innenraumklimatisierung vom individuellen Empfinden der beteiligten Applikateure ab, die sich bei der Bewertung des Komforts bislang nur sehr bedingt auf objektive Messergebnisse stützen können. Die hierfür notwendigen Applikationsfahrten liefern aktuell nicht nur vor allem subjektive Ergebnisse, sie können auch erst spät im Entwicklungsprozess stattfinden, da weite Teile der Hard- und Software bereits festgelegt und integriert sein müssen. Zudem sind bei diesen Tests zahlreiche Lastszenarien in unterschiedlichen Klimaumgebungen abzufahren. Zu diesem Zweck werden aufwändige Erprobungsreisen an teilweise weit entfernten Orten wie Südafrika oder dem Death Valley mit Versuchsfahrzeugen und Personal durchgeführt, was langwierig und kostenintensiv ist.
Um den Anforderungen des Marktes nach einem hohen Komfortniveau im Fahrzeug zukünftig unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten begegnen zu können, ist daher ein Entwicklungsprozess für Klimatisierung und Klimakomfort notwendig, der – anstatt auf klassischen Testfahrten – in erster Linie auf dynamischen Modellen und Simulationen beruht. So soll die teure Applikationsarbeit langfristig auf ein Minimum reduziert und weitgehend durch volltransiente Berechnungen abgelöst werden.
Die Spezialisten von ARRK Engineering haben einen allgemeinen Entwicklungsprozess entworfen, der die einzelnen Schritte der Klimakomfortentwicklung berücksichtigt: angefangen bei Benchmarkuntersuchungen über die Auslegung der Kreisläufe sowie der Funktions- und Komfortauslegung der Kabinenklimatisierung mit Entwicklung der Klimaregelungsstrategie bis hin zur Optimierung und Validierung. Der Fokus der aktuellen Arbeiten an dem Prozess liegt dabei auf der Frage, welche Voraussetzungen insgesamt geschaffen werden müssen, um die angestrebte Virtualisierung umsetzen zu können, und welche Bausteine in der Simulation noch detaillierter erarbeitet werden müssen.
Um die noch bestehenden Lücken zu schließen, sind die ARRK-Ingenieure derzeit dabei, unterschiedliche Modelle zur Abbildung aller beteiligten Faktoren zu erarbeiten. Hierzu zählt beispielsweise die Modellierung der HVAC-Komponente, die das Kernbauteil für die Regelung der Luftkonditionierung und -zuführung in der Fahrzeugkabine ist. Der Schwerpunkt hierbei liegt zum einen auf der Abbildung des thermischen Verhaltens des HVAC zur transienten Ermittlung der Ein- und Austrittstemperaturen der Kabinenluft.
Zum anderen liegt er auf der Abbildung des hydraulischen Verhaltens des HVAC, um eine Aussage über die Luftverteilung in den einzelnen Kanälen in Abhängigkeit der individuellen Klappenstellungen im HVAC zu erhalten und damit die Luftverteilung im Fahrzeuginnenraum abbilden zu können. Um die hierfür benötigten Informationen zu ermitteln, wird das HVAC Modul in Prüfstandsaufbauten detailliert vermessen.
Diese Aufgabe übernimmt ein erfahrener Kooperationspartner, die IPETRONIK GmbH & Co. KG, mit der ARRK Engineering bereits seit 10 Jahren eine enge Zusammenarbeit im Thema Thermomanagement führt. Neben dem HVAC Modul kann die Vermessung aller anderen relevanten Komponenten, wie beispielsweise denen des Kältekreises, ebenfalls durch die IPETRONIK GmbH durchgeführt werden.
Um die Hardware-Messungen auf die Simulation zu übertragen, ist darüber hinaus ein detailliertes Modell der Fahrzeugkabine und des Insassen notwendig, welches mit der ARRK-eigenen Simulationssoftware THESEUS-FE erstellt wird. Zur Abbildung der Insassen umfasst das Tool ein komplexes Menschmodell auf Basis des Fiala-Insassenmodells. Es imitiert die für den Luft- und Wärmeaustausch relevanten menschlichen Körperfunktionen wie Atmung, Blutkreislauf, Schwitzen sowie Kältezittern und berücksichtigt unterschiedliche Bekleidungssituationen. Um detaillierte Randbedingungen an allen Körperteilen für thermische Komfortaussagen mit dem Menschmodell bereitstellen zu können, ermöglicht das Tool mit dem neuentwickelten „Pseudo-3D-Ansatz“ eine sehr feine und automatisierte Diskretisierung des Gesamtluftvolumens in einzelne Luftzonen. Darüber hinaus wird die Simulationsgeschwindigkeit durch den „Pseudo-3D-Ansatz“ enorm erhöht, was für die hochdynamischen transienten Simulationen unerlässlich ist. Innerhalb der Luftzonen können jeweils detaillierte Aussagen über die Luftgeschwindigkeit, -temperatur und -feuchte sowie über die lang- und kurzwellige Strahlung gemacht werden. Selbstverständlich werden bei Sommerlastfällen die Sonnenposition und die dadurch angestrahlten oder abgeschatteten Bereiche in Abhängigkeit von der Fahrzeug- und Scheibengeometrie sowie der Fahrzeugausrichtung automatisch ermittelt. Da sich die Luft- und die Oberflächentemperaturen gegenseitig beeinflussen, betrachtet THESEUS-FE Strahlungs-, Strömungs- und Wärmeleitungsprozesse an einem definierten Bauteil als gekoppeltes System.
Für die Bewertung des gemessenen und modellierten thermischen Komforts stellt schließlich der Komfortindex nach ISO 14505-2 die Grundlage dar, der das thermische Empfinden in Fahrzeugkabinen auf Basis der Äquivalenttemperatur beschreibt und in THESEUS-FE implementiert ist. Mit Hilfe dieses Index sollen möglichst objektive Aussagen über den Einfluss der unterschiedlichen dynamischen Faktoren auf den Klimakomfort im Fahrzeuginnenraum getätigt werden. Diese sollen schließlich für die Definition allgemeiner Komfort- und Klimatisierungsziele – und daraus folgend für die Erstellung eines universellen Lastenhefts – zur Verfügung stehen.
Nachdem die einzelnen Modelle in Beziehung zueinander gesetzt wurden, müssen die daraus gewonnenen Simulationen in den kommenden Monaten mit realen Fahrten verglichen und etwaige Fehlerquellen sowie Ungenauigkeiten in den Berechnungen identifiziert und kompensiert werden. Hierfür wurden bereits Testfahrten mit dem selbst entwickelten ARRK-Dummy durchgeführt. Dieser ist mit 31 gleichmäßig über den Körper verteilten Sensoren zur Messung der Lufttemperatur und ‑feuchte, der lang- und kurzwelligen Strahlung sowie der Windgeschwindigkeit ausgestattet. Eine überarbeitete Version des Dummys befindet sich derzeit in Entwicklung. Sie soll zukünftig nicht nur über die rund dreifache Anzahl an Sensoren verfügen, sondern auch zusätzliche Werte wie die Kontaktwärmeströme aufzeichnen können.
Die Effekte, die bei solchen Fahrten gegenseitig aufeinander einwirken, werden einerseits vom Außenklima, dem Straßenverlauf inner- oder außerorts sowie wechselnder, direkter und indirekter Sonnenstrahlung aus unterschiedlichen Winkeln und Richtungen hervorgerufen. Neben diesen äußeren Faktoren, welche sich auf die Insassen und den von ihnen wahrgenommenen thermischen Komfort in Abhängigkeit von deren Alter, körperlicher Verfassung und Körpermasse auswirken, spielt auch die jeweilige Personenanzahl in der Fahrgastzelle eine Rolle. Nachdem die Simulationen verifiziert werden konnten, rückt das finale Vorhaben in den Fokus: Die zahlreichen, das Fahrzeuginnenraumklima und somit den Komfortwert beeinflussenden Faktoren sollen in all ihren Facetten ausgewertet und objektiviert werden.
Sobald ARRK Engineering diese dynamischen Fahrten ausreichend präzise und schnell simulieren kann, wird der letzte große Schritt des Entwicklungsprozesses für Klimatisierung und Klimakomfort in Angriff genommen. Denn wenn alle für die Berechnung der transienten Lastfälle notwendigen Puzzleteile virtuell reproduzierbar sind, versetzt das die Spezialisten in die vielversprechende Lage, aus diesen Werten konkrete Auswirkungen auf das klimabedingte Wohlbefinden der Insassen abzuleiten. Dementsprechend können objektivierte Handlungsanweisungen für das Thermomanagementsystem mit integrierter Regelung des HVAC-Systems folgen.
Sind diese dynamischen Prozesse erst einmal in einem Komfort-Lastenheft festgehalten, kann die tatsächliche Applikationsarbeit im Testfahrzeug auf ein Minimum, nämlich lediglich die abschließende Feinabstimmung am finalen Fahrzeug, reduziert werden. Auf diese Weise wird die Verwendung der virtuellen Applikation, mit deren Hilfe früh, schnell und unkompliziert auf veränderte Lastfälle und Randbedingungen eingegangen werden kann, zu einer deutlich reduzierten Entwicklungszeit im Vergleich zur manuellen Applikation führen. Dies wird die zukünftige Vorgehensweise der thermischen Komfortbewertung und ‑applikation in der Automobilentwicklung grundsätzlich verändern.